Mein ganz persönliches Stralsund


Nachdem meine letzten Fahrten mit meinem Geschichtengeber, der Deutschen Bahn, äußerst reibungslos verliefen, waren die Hoffnungen auf neuen Stoff für diesen Blog groß. Ich wurde nicht enttäuscht.

Im Nachhinein betrachtet, habe ich mit meiner gebuchten Route die Geschichte fast schon ein wenig erzwungen. Dieses Mal ging es wieder Mal von Kronberg nach Greifswald. Die Besonderheit dabei – statt über Berlin wollte ich über Hamburg und Stralsund fahren. Die Betonung liegt hier bereits auf „wollte“. Auch die Gründe dafür sind naheliegend. Durch die veränderte Route umgehe ich große Teile des Ostens und hatte Hoffnungen nicht, wie üblich, zwischen Berlin und Greifswald in eine mittelschwere Depression zu verfallen bei der Tristesse, die die Ortschaften um einen herum bieten. Als Beispiele einfach Mal die folgenden Orte besuchen fahren: Züssow; Pasewalk; Ducherow; Chorin. Expertentipp – tut es nicht. Aber von vorne: In Kronberg Süd nehme ich die S4 um 12.10 Uhr. In das Viererabteil neben mich setzt sich eine Gruppe Männer, die sich allesamt gegenseitig mit „zukünftige Ex-Braun-Mitarbeiter“ ansprechen. Die Nachtschicht hat bei der Gruppe Männer im Alter zwischen 25 und 40 anscheinend das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Gesprächsthemen bewegen sich eigenwillig zwischen League of Legends, Yoga, Candy Crush, Boxen und Arbeitsbedingungen bei Schichtarbeiten hin und her. Die Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof läuft derweil reibungslos. In den wenigen Minuten Aufenthalt male ich mir ein Szenario aus, bei dem ich morgens um zwei Uhr verloren in Stralsund am Bahnhof stehe und die Nacht auf einer kalten Bank schlafen muss. Der Zug fährt ein - ein IC aus Zeiten, in denen die Menschen noch andere Sorgen hatten als die Beschaffung ihrer Chia Samen für das „healthy“ Frühstück für den Instagram-Blog. Leider steckten bei der Fertigstellung des vor mir einfahrenden ICs Spielereien wie ein Smartphone oder Laptop noch in den Kinderschuhen. Kurz gesagt: es gibt keine Steckdosen. Neben mich setzt sich eine Frau, die ein Kleidungsstück trägt, was allgemein als ein Jumpsuit aus Jeansstoff bekannt ist. Oder wie der letzte Bachelor auf RTL fachmännisch gefragt hat „Ist das ein Overall?“. Sie ist ganz freundlich, erinnert mich jedoch ein wenig an eine Douglas-Filiale. Ich lächle kurz, sie sagt „Hi“, Smalltalk beendet. Wir gondeln los, das Tempo ist gemächlich, mein Plan die Fahrt mit Filme schauen zu verbringen ist Dank der fehlenden Steckdosen gestorben. Mir gelingt etwas, das ich normalerweise nie schaffe in Zügen – ich schlafe ein. Mein inneres Warnsignal weckt mich kurz vor Göttingen. Die Klimaanlage funktioniert noch und auch die Jumpsuit-Frau sitzt noch neben mir. Sollte es wirklich eine weitere reibungslose Bahnfahrt werden? 

In Göttingen hält der Zug bereits zehn Minuten als komische Geräusche durch die Lautsprecher klingen. Wenig später erklingt die Stimme einer genervten Dame, es gäbe eine Störung im Zugfahrtzeug, wer nur nach Hamburg will, solle den ICE am Gleis gegenüber nehmen. Ich bleibe sitzen, ein folgenschwerer Fehler. Nach weiteren 15 Minuten in Göttingen und eine mittlerweile ausgefallene Klimaanlage später kommt die Durchsage, dass der Zug doch kaputt sei, alle müssen raus. Die Frau neben mir wirkt verzweifelt, sie muss noch nach Rostock weiter. Wir bilden eines dieser kleinen Teams, die sich bei Bahn- und Flugzeugausfällen bilden und überlegen wie wir in den Norden kommen. Eine Geschäftsfrau schließt sich uns an und offeriert den Plan, dass wir uns ein Auto mieten. Sixt durchkreuzt unsere Pläne. Samstags ist Ruhetag – schade. Ich sehe, dass ein ICE nach Berlin einfährt und wünsche meinem fünf Minuten Team noch viel Glück bevor ich in dem brandneuen Zug Platz nehme. Nach meinen Hochrechnungen könnte meine Fahrt nun sogar schneller von Statten gehen als mit dem IC, wie leichtgläubig ich doch war. Kurz bevor wir im Hauptbahnhof in Berlin einfahren kommt noch eine Durchsage, dass alle Fahrgäste, die in Richtung Stralsund wollen, die S1 nach Oranienburg nehmen sollen und dort dann den Regionalexpress Richtung Stralsund. Ich folge wie ein treues Lamm den Worten des Zugführers und werde natürlich bitter bestraft. 

Nach zwei Umsteigeaktionen in Berlin sitze ich in der S1 und frage mich, wann der Regionalexpress auf meinen Fahrten jemals in Oranienburg gehalten hat. Ich komme zu dem Ergebnis, dass es noch nie vorkam und öffne panisch meine DB-App. Auch die bestätigt mir, dass von Oranienburg zwar ein Regio abfährt, nur eben nicht nach Greifswald. Ich steige wieder aus. Nach kuzer Recherche stellt sich heraus, dass glücklicherweise aber noch ein Zug nach Greifswald fährt, allerdings nur von Berlin Bernau aus. Nach einer weiteren halben Stunde Fahrt komme ich in Bernau an. Eine tolle Haltestelle. Es gibt so ziemlich gar nichts außer einem geschlossenen Bistro. Ich muss noch fast 1 ½ Stunden warten bis mein Regio kommt. Ich verbringe die Zeit mit meiner Lieblingsbeschäftigung und beobachte die Menschen um mich herum. Eine Gruppe chinesischer Touristen, die wie auch immer in Bernau gestrandet sind, fotografieren aufgeregt eine einfahrende S-Bahn, die mit künstlerisch minderwertigen Graffitis vollgesprüht ist. Als weiteres Highlight folgt ein Mädchen, das eine Dinosauriermaske trägt. Eine Handlung, die bei einem Mädchen zwischen zwei und zehn Jahren vielleicht noch ansatzweise nachvollziehbar gewesen wäre – bei einem Mädchen um die 16 sieht es jedoch ziemlich albern aus. Ich beobachte die Menschen, die zur S-Bahn sprinten während auf der Anzeigetafel bereits die letzte Minute aufblinkt. Diese letzte Minute zieht sich über fünf weitere und so ist es ein angenehmes Spektakel immer wieder sprintete Zuspätkommer zu beobachten, die sich in der Bahn beglückwünschen, es noch geschafft zu haben. Gerade so natürlich. In meiner Zeit in Bernau laufen insgesamt sechs Pfandflaschensammler vorbei und schauen in den Mülleimer neben mir. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Pfandflaschensammlern in Bernau zu geben, das besagt, dass man immer ein paar Flaschen überlässt für die Kollegen, denn jeder holt wieder eine Plastikflasche oder eine Dose aus dem Müll. Um 20.30 erinnere ich mich an mein ausgemaltes Szenario von einer Nacht in Stralsund am Bahnhof und muss ein wenig schmunzeln. Bernau ist zu meinem ganz persönlichen Stralsund geworden heute. Der Regionalexpress ist angenehm zu früh und ich nehme in einer Vierersitzgruppe (wegen der Steckdosen) Platz und schalte meinen Laptop ein in der Hoffnung wenigstens noch einen Film schauen zu können. Es kam anders. Drei Frauen im Alter von Anfang 60 fragen mich, ob sie bei mir Platz nehmen können. Ich spare mir einen Verweis auf den komplett leeren Wagon und sie setzen sich zu mir. Eine Gabe, die ältere Menschen im Laufe ihres Lebens erlangen, ist das gekonnte Ignorieren von Offensichtlichem. Und so können sie meine relativ großen Kopfhörer nicht davon abhalten ein Gespräch mit mir anzufangen. Wir reden über alles Mögliche und irgendwann werde ich nach meinem Studiengang gefragt. Ich überlege kurz, einfach BWL zu antworten, damit sich keine weiteren Fragen ergeben, bleibe jedoch bei der Wahrheit. Ab dann werde ich zu allen aktuellen politischen Geschehnissen befragt und mein seidenes Halbwissen sorgt für anerkennende Blicke. Als wir in Greifswald einfahren versichern mir die Frauen, dass ich ihre Stimme hätte, falls ich Mal in die Politik gehen sollte und ich verzichte auf den fünften Hinweis, dass ich mich eher in mein anderes Studienfach vertiefen will. Nach elf Stunden und dreißig Minuten Reise komme ich in Greifswald an und denke an meine kleine Zeit in Bernau.

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