Das Ausweis-Epos

Diese Geschichte führt mich in die Mitte der deutschen Bürokratie und dort warten verdammt viele Leute.

Mein Ausweis ist Ende November vergangenen Jahres abgelaufen und wie es sich für einen rechtschaffenden deutschen Bürger gehört, versuche ich fünf Wochen später, einen neuen zu beantragen. Nicht ahnend, auf welche unglaubliche Reise ich mich in den kommenden Monaten begeben würde. Mein erster Versuch ist retrospektiv betrachtet deshalb auch absolut lächerlich. Ähnlich peinlich war mein Gedanke, dass ich mir für solch einen bürokratischen Akt einen Termin geben lassen könnte. Es sei an dieser Stelle gesagt, dass wirklich alle Mitarbeitenden des Einwohnermeldeamts in Kiel unglaublich freundlich sind. Als ich meine Frage nach einem Termin am Telefon stelle, kann die Dame am anderen Ende der Leitung sich aber nicht anders helfen, als anzufangen zu lachen. Das Martyrium beginnt.

Versuch 1: Die schnelle Nummer

An einem Abend im Januar treffe ich plötzlich die undurchsichtige Entscheidung, dass ich am nächsten Tag endlich einen neuen Ausweis beantragen werde. Eine beglaubigte Kopie meiner Geburtsurkunde habe ich vorliegen, denn die braucht man aus nicht nachvollziehbaren Gründen für einen neuen Ausweis, die Chancen stehen also günstig. Wie tief ich doch fallen sollte. Nach kurzer Recherche finde ich heraus, dass das Amt um 7 Uhr 30 öffnet. Pünktlich um 7 Uhr 15 schlendere ich deshalb am folgenden Morgen in den Eingangsbereich und werde sofort von einem Security gestoppt. „Welche Nummer haben Sie?“ fragt er mich und scheint auf diese absurde Frage, wirklich eine Antwort zu erwarten. Ich entgegne „Was für eine Nummer denn?“. Der Mann schaut mich mitleidig an und teilt mir mit, dass ich heute keine Chance mehr habe und einfach am nächsten Tag früher kommen soll. Mache ich natürlich nicht.

Versuch 2: Die große Hoffnung

Bei meinem zweiten Versuch gehe ich die Sache schon wesentlich ernsthafter an. Beim ersten Antritt konnte ich noch in Erfahrung bringen, dass das Gebäude (angeblich) um 6 Uhr öffnet. Ich bin also - mittlerweile im April - an einem Freitag um zehn nach sechs da. Diesmal komme ich sofort weiter als beim letzten Mal werde doch von einer nie endenden Menschenschlange erschlagen. Ich schreite die Wartenden gewohnt staatsmännisch ab, nicke hier und da völlig Fremden zu und entdecke schließlich im ersten Stock nach ungefähr 60 Personen das Ende. Wo ich mich dann auch gleich positioniere. Es muss meine latente Übermüdung gewesen sein, die mich sofort zu der utopischen Haltung bringt, dass ich nun regungslos stehend bis 7 Uhr 30 verharren werde. So ertrage ich mit napoleonischer Größe, dass um mich herum diverse Großfamilien mit schreienden Kindern, die Nerven der Mitwartenden strapazieren.

Um 6 Uhr 30 setzt ein Menschenstrom ein. Ich identifiziere sie sofort als Opfer der Hinweise der Security-Männer, dass man um 6 Uhr 30 da sein sollte, um „sicher eine Nummer zu bekommen“. Albern, ich komme nicht drumherum innerlich mit großer Genugtuung ihr spätes Erscheinen zu missbilligen. Keine sechs Minuten später, ich habe extra auf die Uhr geschaut, bricht vor mir eine junge Frau unvermittelt in Tränen aus und erholt sich innerhalb weniger Augenblicke wieder. Wahrscheinlich hat sie in prophetischer Gewissheit einfach gespürt, was uns blühen sollte. Die Schlange hinter mir wird derweil immer länger und ich fühle mich ein wenig wie ein Türsteher, der ausnahmslos alle in den Club lässt, ohne irgendetwas zu kontrollieren.

Da einem in solchen Situationen nicht wirklich etwas anderes übrigbleibt, beginne ich, die Szenerie um mich herum zu beobachten und stelle fest, dass ausgesprochen viele der Wartenden sogenannte „Ugly-Sneaker“ tragen. Und genau da habe ich dann auch die Erkenntnis, woher dieser Trend kommt. Aus dem Amt selbst. Durch die dicken Sohlen steht und wartet es sich sicherlich viel angenehmer als mit normalen Schuhen. Die Schlange selbst wird währenddessen dynamischer. Vermehrt Männer beginnen mit etwas, was ich seit meiner Kindheit als Flughafen- und Rastplatzübungen kenne. Es wird sich gestretcht, die Hüfte gekreist und einmal springt sogar ein Mann ein wenig hoch. Mein Blick sucht verzweifelt den Dutyfree-Store – ohne Erfolg. Das wirre Treiben muss mich dann auch wieder zum nächsten narzisstischen Anfall geführt haben, denn ich denke plötzlich, dass sich vermehrt zu mir umgedreht wird. Ich bin kurz davor cäsarenhaft „Ich warte mit euch.“ zu sagen, um die Moral der Truppe hochzuhalten, schaffe es aber gerade noch, stumm zu bleiben.

Irgendwann setzt dich dann wirklich alles nach und nach in Bewegung und in meiner neuen Position stehe ich plötzlich hinter einer der Familien mit kleinen Kindern und entdecke, dass sich ein Junge, höchsten fünf Jahre alt, Bilder seiner Familie anschaut. Die Bilder haben alle eines gemeinsam: Sie wurden hier im Amt aufgenommen. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie lange sie wohl schon warten, wenn dieses Ereignis ein solch epochale Größe der Erinnerungsfotos erreicht hat. Mir ist mittlerweile völlig klar, dass es heute nichts mehr werden wird mit der Ausweisbeantragung und wenig später kommt dann auch die Gewissheit als einer der Securitys alle zehn Meter an der Schlange stehenbleibt und mitteilt, dass man kaum Chancen mehr hat, wenn man so weit hinten steht. Der Traum ist aus.

Versuch 3: Triumph des Wartens

Bei meinem dritten Amtsantritt gehe ich kein Risiko mehr ein: Der Wecker klingelt um 4 Uhr 30. Weil ich aber vor 13 Jahren einmal verschlafen habe, wache ich seitdem bei sehr frühen Aufstehversuchen in der Nacht davor stündlich auf. So auch in dieser und um 3 Uhr 58 schäle ich mich aus dem Bett. Ich versuche mir einen Tee lang einzureden, dass es überhaupt nicht schlimm ist, wegen einer Ausweisbeantragung so früh aufzustehen und scheitere noch bevor der Beutel kalt ist. 50 Minuten danach erreiche ich das noch verschlossene Rathaus. Mit mir warten allerdings schon fünf andere. Wir bilden sofort eine Zweckgemeinschaft und werden die nächsten Stunden verbrüdert den Kampf der Bürokratie ausfechten. Um 5 Uhr 15 werden die heiligen Hallen aufgeschlossen und der erste in der Schlange spricht den aufschließenden Mann allen Ernstes mit Namen an. Man kennt sich eben. Ich nehme den dritten Platz ein und kann es kaum glauben, dass ich jetzt nur noch ungefähr zwei Stunden warten muss bis ich wirklich neue Ausweisdokumente beantragen darf.

Es dauert keine zwanzig Minuten bis das erste Mal eine gewisse Unruhe aufkommt. Grund dafür ist ein auslaufender Kaffee im Rucksack eines Jungen zwei Plätze hinter mir. Er ist mit der Situation vollkommen überfordert und läuft wild umher, was den Kaffee in einem schönen Muster in der Halle verteilt. Eine ungekannte Welle der Solidarität bricht aus und ihm werden lächerlich viele Taschentücher angereicht. Die Ruhe kehrt zurück. Indessen hat sich eine Frau auf die unterste Stufe der Treppe gesetzt, da ihr Sohn ohnehin den Platz hinter mir in der Schlange sichert. Sie wird fortan zur Lotsin der neu Hereinkommenden und lenkt sie zielsicher ans Ende der Schlange. Das Ganze gipfelt in der absurden Situation, dass sie von einem der neuen gefragt wird, ob er heute noch eine Chance hätte. Sie schüttelt mit dem Kopf, er trottet zum Ausgang. Das Ganze ist noch genialer, wenn man bedenkt, dass sie kein Wort Deutsch konnte. Das hatte ich zuvor von dem Jungen hinter mir erfahren, der eben für seine Eltern die Warteposition eingenommen hat. Im weiteren Verlauf passieren leider keine erwähnenswerten Ereignisse mehr. Ich darf Ausweis und Reisepass beantragen, meine Zweckgemeinschaft verabschiedet sich von mir, ich fahre zur Arbeit. Was meinen Ausweis betrifft, habe ich nun zehn Jahre Ruhe und die kann ich auch gut gebrauchen.

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