Chillen im Görli oder ein Kind namens Rüffel


Ich wollte eigentlich ausschließlich über meine Pechsträhne schreiben und das schon letzte Woche. Ich wusste jedoch, dass mir am Wochenende eine 16 stündige Bahnfahrt bevorstand - ich wurde nicht enttäuscht.

Meine Pechsträhne begann an einem Montag in der alten Mensa meiner Uni. Ich war mit den üblichen Verdächtigen verabredet und der Essensplan klang gar nicht so schlecht. Die Realität sah allerdings anders aus. Aus den ursprünglich fünf Gerichten waren zwei geworden. Eines davon war eine undefinierbare Masse, das andere Chili sin Carne. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob es heute auch ein Salat oder nur ein Nachtisch tun würde, entschied mich dann aber doch für das Chili. Es war mein erstes Chili sin Carne und meine erste größere Menge an Tofu – es wird sie vorerst auch bleiben. Schlechtes Mensa-Essen allein reicht natürlich nicht für eine Pechsträhne, die wurde erst bei meinem Friseurbesuch am nächsten Tag eingeleitet. Nachdem ich am Morgen mit Bauchkrämpfen aufgewacht war, ich gebe dem Chili sin Carne nach wie vor die Schuld daran, trainierte ich mit einem Freund bevor ich anschließend endlich wieder zum Friseur wollte. Am Wochenende stand schließlich eine Hochzeit an, man will auf den Fotos ja passabel aussehen. Mein Stammfriseur hatte wenig zu tun und ich kam gleich dran. „Wie immer?“, ich nickte und freute mich, dass er sich an meinen Haarschnitt erinnern konnte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt mein Allerweltsaussehen vergessen. „Schön kurz?“, ich nickte erneut. Einen Moment später sah ich noch in Zeitlupe wie er den Rasierer von unten die Seite komplett hochzog. Ich bekam einen blitzsauberen Undercut rasiert. Ich ergab mich ziemlich schnell meinem Schicksal und war froh, dass er mir die Haare nicht komplett auf drei Millimeter rasierte. Mit einem gequälten Lächeln quittierte ich seine Arbeit wie immer mit einem Nicken und „Perfekt!“. Die Pechsträhne begann zu wachsen.

Mein Zug ging am Freitag zu einer humanen Zeit gegen halb eins. Human wäre diese Zeit gewesen, wenn ich am Vorabend nicht doch etwas zu viel getrunken hätte bei der deutschen Niederlage gegen die Franzosen. So kam mir halb eins wie acht Uhr morgens vor und allein der Gang zum Bahnhof erwies sich als Qual. Zumindest kam der Zug pünktlich und mein Wagon war weitestgehend leer. Das Wort „weitestgehend“ schließt in diesem Fall leider mit ein, dass noch andere Passagiere in der Nähe saßen. Zwei von ihnen waren Jungen, die am Ende saßen in etwa drei Metern Distanz zu mir. Sie waren um die 18 und ziemlich aufgeregt, da sie zum Splash fuhren (Für die Nicht-Hip-Hop-Fans, das ist ein Hip-Hop-Festival). Ich nenne sie deshalb im Folgenden auch nur noch die Splash-Idioten. Die Splash-Idioten diskutierten über ihre Bahnverbindung und ob es nicht Sinn machen würde, in Berlin auszusteigen, statt schon in Angermünde. Ich bin mir nicht sicher wie viele Züge in Angermünde abfahren, würde aber prinzipiell sagen, dass es immer sinnvoll ist erst in Berlin umzusteigen. Der Ticketkontrolleur bestätigte ihre Vermutung und offenbarte ihnen, dass sie nun nicht nur eine Stunde früher ankommen würden, sondern sogar eine Stunde Aufenthalt in Berlin hatten. Ich fragte mich, welche Strecke sie ursprünglich fahren wollten, dass sie derart viel Zeit verlieren konnten. Die Erkenntnis über den einstündigen Berlinaufenthalt versetzte die ohnehin aufgeregten Splash-Idioten in noch größere Aufruhr. Sie unterhielten sich ab sofort in Konzertlautstärke. Als zusätzlich anstrengender Faktor kam hinzu, dass beide sehr langsam sprachen. Mein Kopf rebellierte. Das nächste große Problem der Splash-Idioten war, dass sie unbedingt Nick erreichen mussten, den Cousin von Carlo aus Berlin wie ich unfreiwillig erfuhr. Sie hatten scheinbar selbst die Nummer von Nick, aber konnten ihn aus nicht geklärten Gründen nicht persönlich anrufen. Einer der beiden rief daraufhin einen Moritz an, der Nick anrufen sollte und ihm sagen, dass Nick sie anrufen sollte. Die exakte Logik dahinter erschließt sich mir bis heute nicht. Um es kurz zu fassen - es kam nie zu einem Telefonat mit Nick. Der noch langsamer Redende der beiden begann nun den Aufenthalt in Berlin zu planen. Die eine Stunde wurde geplant, als würde sie 2 Tage andauern. Der eine wollte unbedingt im „Görli“ chillen, aber auch einkaufen und essen gehen. Der andere verwies wieder auf das Treffen mit Nick und dass er auch noch etwas durch die Stadt laufen wollte. Aber ohne Gepäck, das würden sie vorher in Schließfächern verstauen. Das Thema „Görli“ beschäftigte die beiden noch weiter. Einer begann eine Geschichte von einer angeblichen Reportage zu erzählen über die Drogendealer-Hierarchien im „Görli“. Ich zitiere hier sein Schlussresümee „Also im Görli gibt es so Berge und oben auf den Bergen sitzen dann die Bossniggas, die verwalten alles und haben das Sagen!“. Die Vorstellung, dass Leute auf Bergen sitzen und alles verwalten könnte fast aus einem Kinderbuch stammen, würde er sie nicht „Bossniggas“ nennen und würde es nicht um Drogendealer gehen. Wie der Aufenthalt der beiden in Berlin nun ablief, weiß ich leider nicht, wobei es mich brennend interessieren würde wie viele Punkte sie von ihrer Liste abhaken konnten. 

Nach meinem Aufenthalt in Berlin ging es mir schon wesentlich besser und ich freute mich als der ICE pünktlich einfuhr. Auf meinen Reisen durch die Republik begleitet mich nun seit geraumer Zeit immer die gleiche Familie. Es sind natürlich unterschiedliche Teile dieser, aber sie alle entstammen der großen Familie Fettleibig. Die Familie Fettleibig blockierte den gesamten Einsteigeprozess in den Zug. Als sie nach zehn Minuten Fahrt, der nächste Halt wurde bereits angekündigt, sich endlich hingesetzt hatten, konnte auch ich Platz nehmen. Wie es das Schicksal so wollte, saß ich direkt hinter ihnen. Kaum saßen sie, begann ein Sitzplatzänderungsprozess. Hierbei blieb mir vor allem ein Name im Gedächtnis. Eine der Mütter wollte neben ihrem kleinen Jungen sitzen – neben Rüffel. Ich überlegte, ob ich mich verhört hatte, doch sie wiederholte ihr Anliegen. Wie in Trance holte ich meinen Laptop aus meinem Rucksack und legte eine DVD ein. Gerade bevor ich den Film startete, hörte ich noch wie jemand sagte, dass er Hunger hatte und einer der Männer zauberte vier Pizzakartons aus einer Tasche. Familie Fettleibig war versorgt, ich drückte auf Play, die Deutsche Bahn bleibt mir treu als Geschichtenlieferant.

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