„Hallo
Anita, hier ist Uschi!“
Die restliche Zeit in München
war weniger spannend als erwartet und die einzelnen Highlights lassen sich
schnell zusammenfassen: Mehrere Versuche von Freunden des eigentlichen Zimmerbesitzers
nachts in dieses zu gelangen. Das ein oder andere Bier aus dem Automaten.
Oktoberfestleichen im Flur.
Nach einem kurzen
Zwischenstopp in meiner eigentlichen Heimat Frankfurt am Main (Ich erwähne das „am
Main“ erst seitdem ich im Osten wohne und ein bloßes „Frankfurt“ stets für
Verwirrung gesorgt hat) ging es dann vergangenen Sonntag mit dem Zug Richtung
Ostsee. Mein Glück mit Bahnfahrten ist ungefähr vergleichbar mit meinem
bisherigen Lottoglück. Ich habe schon mal zehn Euro gewonnen, das war es
allerdings auch. Die Vorzeichen standen also eher mäßig und ich war froh, dass
der ICE planmäßig um 10.13 in den Hauptbahnhof einfuhr. Auch ohne
Sitzplatzreservierung fand ich schnell einen freien Sitz, es hätte nicht besser
laufen können. Wir fahren zehn Minuten als sich das erste Mal Milenchen
bemerkbar macht. Milenchen ist 17 Monate alt wie ich später unfreiwillig
erfahren sollte und fand die Zugfahrt sehr aufregend. Neben Milenchen saß ihre
Mutter, die nicht nur sehr groß war, sondern auch ausgesprochen gut aussah. Man
verzog ihr also gerne, dass ihre Tochter alles mit schrillen und lauten
Geräuschen kommentierte. Inwiefern ein 17 Monate altes Baby eben rational seine
Umwelt kommentieren kann. Der Sitz über den Gang weiter gehörte Milenchens Oma.
Gerade als ich die Verbindung zwischen ihr und meinen Sitznachbarn hinter mir
hinbekommen hatte, holte sie ihr Handy raus und tippte unbeholfen darauf herum.
Als sie es schließlich geschafft hatte, eine Nummer einzutippen begann ein
Gespräch mit einer Freundin von ihr „Hallo Anita, hier ist Uschi! Störe ich
Dich beim Frühstück?“, die Reaktion aus dem sehr laut eingestellten Telefon
ließ eigentlich vermuten, dass sie sehr wohl störte, was Uschi gekonnt überhörte
und in Diskolautstärke von ihrer Reise berichtete. Ich klappte derweil meinen
Laptop auf und freute mich auf mein Filmmaterial, was zuvor noch vom
Wohnheimserver in München organisiert wurde. Milenchen fand Gefallen daran,
gegen die Lehne zu hämmern und ihr Anliegen mit unverständlichen Geräuschen zu
untermalen, ihre Mutter bestärkte sie und klappte vorbildlich einmal den Tisch
runter, um ihn anschließend mit voller Kraft gegen meinen Sitz zu donnern.
Milenchen freut sich, ich erschrecke mich, Uschi lobt die Lebensfreude des
Kindes. Plötzlich stand ein Mann neben mir und fragte auf Englisch, ob er sich
auf den freien Platz am Fenster setzen könne. Er konnte. Ich schaute eine Zeitlang
mehr oder weniger ungestört meine Serie und der Zug raste Richtung Berlin. Mein
neuer Sitznachbar war nur leider erstaunlich unternehmungsfreudig und bat mich
drei Mal ihn rauszulassen, woraufhin er stets den Gang langsprintete. Zunächst
vermutete ich noch, dass er eine schwache Blase hatte, gegen Ende der Fahrt
hatte ich eine andere Vermutung, dazu später mehr. In Hildesheim stieg eine
ganze Reihe von Menschen aus, Milenchen war eingeschlafen und die Plätze vor
mir waren frei. Der Frieden hielt keine drei Minuten als eine zehnköpfige
Gruppe von Jugendlichen im Alter von schätzungsweise 13 Jahren die freien
Plätze einnahmen. Der Lärmpegel erhöhte sich gewaltig. Die Begleitpersonen
waren ein älteres Pärchen, die sich autoritär ungefähr auf der Ebene eines Schneemanns
befanden. Sie intervenierten einmal zaghaft, gaben dann direkt auf. Mein
Sitznachbar erwachte aus seinem Schlaf und warf den Kindern einen bösen Blick
zu. Aus dem Augenwinkel erkannte ich auf seinem Handy eine Schrift, die nach
Hebräisch aussah. Ich stellte meine Kopfhörer lauter und versuchte meine Serie
weiterzuverfolgen. Dankbarerweise sammelten sich alle Nacktszenen in den wenigen
Folgen, die ich auf der Fahrt schaute. Ich versuchte jedes Mal sie wegzudrücken
und mit dem Blick starr auf dem Bildschirm zu bleiben, um nicht in unangenehme
Gespräche mit Uschi verwickelt zu werden. Meine Aufmerksamkeitsspanne sank
allerdings zunehmend, als mein Sitznachbar anfing auf Englisch E-Mails zu
schreiben. Er schrieb insgesamt fünf. In zwei bedauerte er den Tod von
irgendwelchen Menschen, die er kannte, erwähnte allerdings gegen Ende hin, dass
er hoffte, dass ihre geschäftlichen Beziehungen weiterhin gut blieben. Die anderen
drei drehten sich um scheinbar zerrüttete Freundschaften, wieder mit den
Endsätzen, dass er dennoch auf eine gute geschäftliche Beziehung hoffte. Mir war
schlagartig klar, wer neben mir saß. Es musste sich um einen israelischen
Geheimagent vom Mossad handeln. Die schnellen Sprints den Flur entlang
erschienen mir nun nicht mehr Toilettenpausen gewesen zu sein. Da fuhren wir in
Berlin ein und ich schaffte es gerade noch meinen Anschlusszug zu erreichen.
Niedergelassen im
Regionalexpress fieberte ich dem Ende meiner Reise entgegen und war guter Dinge,
da bisher ja alles perfekt geklappt hatte. In Angermünde werde ich je aus meinen
Träumen gerissen. Der Zug hält verdächtig lange und nach ca. fünf Minuten kommt
eine Durchsage, dass der Zug ab hier nicht weiterfuhr. Ich nahm meine Sachen
und stieg aus. Neben dem Zug standen ähnlich irritierte Gesichter wie ich. Eine
genervte Kontrolleurin erklärte, dass es eine Baustelle gäbe und ein Bus uns
nach Prenzlau bringen würde. Ich schloss mich der fluchenden Masse an und wir
liefen zum kleinen Busbahnhof. Der Plan des Schienenersatzverkehrs stellte die
Menge, die übrigens nahezu ausschließlich aus Senioren, die aus dem Urlaub
zurückkommen bestand, vor einige Probleme. Bis ein dicklicher Junge mit
weiblicher Stimme die zielsichere Führung übernahm und verkündete, dass wir nur
eine Stunde warten müssten bevor es weiterginge. Die Meuterei war kurz vorm
Ausbrechen, ich sah gedanklich den Bahnhof Angermünde schon in Flammen
aufgehen. Doch der Bus kam keine fünf Minuten später um die Ecke und ein
herzlicher Busfahrer berichtete, dass er uns nicht so lange warten lassen wollte
und er gleich losfahren würde. Die Menge war beruhigt, es wurden kleine Witze über die Bahn gemacht, die so garantiert noch nie gefallen sind.
Plötzlich dachte ich, dass eine Sirene losginge. Ein langsam lauter werdendes
schrilles Geräusch drang in mein linkes Ohr. Eine kleine Kopfdrehung sorgte
für Erklärung. Eine Frau fing an zu heulen. Warum genau wusste niemand. Ein
Mann mit Dackel nahm sich ihr an und versuchte sie mit einer feinen Berliner
Schnauze mit wenig hilfreichen Lebensweisheiten zu beruhigen. Ich stieg in den
Bus ein, die Tour durch Felder und kleine Ortschaften ging los. In Prenzlau
dann die nächste Ernüchterung. Dank der Baustelle war der normale Fahrplan
nicht mehr gültig, bedeutete im Kurzen: Eine Stunde warten bis der nächste Zug
kam. Ich nutze die Zeit für ein paar Telefonate, der dickliche Junge kaufte
sich einen Döner, die Seniorenfraktion tauschte Urlaubsgeschichte aus der
Türkei und Portugal aus, die weinende Frau trank eine Flasche Rosé. Nach einer
gefühlten Ewigkeit und leicht durchgefroren, kam der Zug und es ging weiter gen
Ostsee. Um hier vorwegzugreifen – es passierte nichts mehr auf der weiteren
Fahrt. Angekommen empfing mich meine Studienstadt mit leichtem Wind, dafür aber
starkem Regen. Die Hauptstadt des Freistaats schien tausenden Kilometer hinter
mir zu liegen.
Ich kann dir sagen, weshalb dein Glück bei Bahnfahrten vergleichbar ist mit deinem Lottoglück: Lord Bendtner gewinnt im Lotto. Immer.
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